5 
      
      
      
      
    10 
      
      
      
      
    15 
      
      
      
      
    20 
      
      
      
      
    25 
      
      
      
      
    30 
      
      
      
      
    35 
      
      
      
      
    40 
      
      
      
      
    45 
      
      
      
      
    50 
      
      
      | 
    Ein
    Fremder, der nach Deutschland 
    kommt,  wird  glauben,  hier  lebe  es 
    sich sehr gefährlich. An kaum einem 
    Fahrrad fehlt der linksseits montierte 
    rote Abstandhalter zur Mahnung des 
    überholenden Verkehrs, Rote Groflä- 
    chenrückstrahler gibt es zusätzlich zu 
    den gelben Pedalrückstrahlern. Ein Blick 
    in verkehrsberuhigte Spielstraßen zeigt 
    ihm, wie unwahrscheinlich es war, die ei- 
    gene Kindheit zu überleben: Fahrräder 
    mit roten Signalflägglein deuten auf 
    sturzhelmtragende Kinder, deren Eltern 
    mit ABS-gebremsten, seitenaufprall- 
    schutzbewehrten Autos Qber geschwin- 
    digkeitshemmende Bodenwellen gleiten. 
    Stolz verkündet die Heckscheibe: "Ich 
    habe Blutplasma an Bord." 
        Wenn man dem Fremden dann sagt, 
    daß manche Gemeinden hierzulande le- 
    benslange Renten an Mitbürger zahlen, 
    die sich im Sturz über eincn hervorste- 
    henden Pflasterstein verletzten, so wird 
    er vielleicht einen Verdacht haben. Viel- 
    leicht, wird er denken, geht es hier schon 
    nicht mehr nur um die Gewährleistung 
    von Sicherheit, sondern schon um Be- 
    quemlichkeit. 
        Wenn dem Fremden dann noch gesagt 
    wird, daß in diesem Land praktisch nur 
    noch Zahncremes mit Kariesprophylaxe, 
    Rasierapparate mit Sicherheitsscherkopf, 
    Sonnenbrillen mit UV-Protektion und 
    strahlungsabsorbierende Bildschirme ge- 
    handelt werden, dann wird er nicht nur 
    die öffentlichen Kampagnen für Kondo- 
    me verstehen; er wird auch denken: Si- 
    cherheit und Bequemlichkeit sind die Fe- 
    tische dieser Gesellschaft. 
        Es wird ihn daher nicht wundern, 
    wenn diese Gesellschaft, die schon in 
    Windeln Seitenauslaufschutz genießt, 
    glaubt, auch intensivsten Schutzes durch 
    Gesetze zu bedürfen. Mit Sorge aller- 
    dings dürfte er schon die eskalierende 
    Freistellung des Individuums von der all- 
    täglichen Sorge um sich selbst betrach- 
    ten. Wenn etwa Arbeitnehmer von der 
    persönlichen Pflicht zur Abführung von 
    Steuern und Sozialbeiträgen entbunden 
    sind, so isr diese Pflichtenabwälzung auf 
    den Arbeitgeber nicht nur ein verwal-  | 
      
      
    55 
      
      
      
      
    60 
      
      
      
      
    65 
      
      
      
      
    70 
      
      
      
      
    75 
      
      
      
      
    80 
      
      
      
      
    85 
      
      
      
      
    90 
      
      
      
      
    95 
      
      
      
      
    100  | 
    tungstechnischer
    Vorgang. Er wirkt auch 
    bewußtseinsbildend. Was auch immer ge- 
    schieht: ein anderer kümmert sich, ermit- 
    telt nötigenfalls von Amts wegen und 
    veranlaßt das Erforderliche. 
        Daß wir uns mit dieser Schutzum- 
    schlagsphilosophie in die entsetzlichste 
    Verantwortungslosigkeit stürzen, ist die 
    bittere Konsequenz. Unter Berufung auf 
    das Sozialstaatsgebot wuchert die ur- 
    sprüngliche Hilfsgarantie bei individuel- 
    len Krisen zu. einer Behaglichkeitsgaran- 
    tie für die Allgemeinheit. Am Ende steht 
    der Wunsch nach einem lauschigen 
    Plätzchen in der staatlich subventionier- 
    ten Großindustrie, Arbeits-, Mutter- und 
    Kündigungsschutz inklusive. 
        So wird der einzelne kontinuierlich 
    von der Last eines eigenen Gedankens 
    befreit, Zuletzt definiert die Rechtspre- 
    chung, welche Überlegungen man seinem 
    Mitbürger noch zutrauen darf. Der 
    Wettbewerber muß dem Verbraucher al- 
    les haarklein erklären; wer ausrutscht, 
    ärgert sich nicht, sondern sucht nach 
    dem Streupflichtigen. 
        Erst wenn das letzte Auto mit Mobili- 
    tätsgarantie ausgestattet und der letzte 
    Ast Gegenstand eines eigenen Verkehrs- 
    warnhinweises geworden ist, werdet ihr 
    begreifen, daß man die Sorge um sich 
    selbst nicht delegieren kann. So etwa 
    könnte der Fremde sprechen, der die 
    subtile gesellschaftliche Ächtung desjeni- 
    gen beobachtet, der sich dem al1gemei- 
    nen Sicherheitskonsens verschließt: Wer 
    es je gewagt hat, an einer Fahrbahnver- 
    engung die wegfallende Spur bis zur Eng- 
    stelle zu nutzen, der kennt die lückenlose 
    Solidarität der sicherheitshalber frühzei- 
    tig Eingescherten. Warum sollten sie die- 
    sem das Schicksal ersparen, wegen des- 
    sen Vermeidung sie selbst bereits seit sie- 
    benhundert Metern im Stau stehen? Er- 
    schreckend ist dabei, daß diese vorsorg- 
    lich Stauenden ihre Sicherheit über das 
    Gesetz stellen. Was geschieht mit einem 
    Gemeinwesen, das beginnt, im Namen der 
    Sicherheit Gesetze zugunsten der Be- 
    haglichkeit zu ignorieren? Wer schützt 
    uns vor der Sicherheit? 
    Der Autor ist Rechtsanwalt in Duisburg.  |