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Jurek Becker, Bronsteins Kinder

 

Beziehungen zwischen den Personen

Erstellt von Markus Block

Hans - Martha

  • Scheitern der Beziehung, weil Hans Martha nichts vom Häuschen erzählt

  • er will sie nicht mit dieser Sache belasten

  • er schätzt sie falsch ein, erst bei seiner Wohnungssuche erkennt er, dass Martha mit jeder Situation fertig wird (S.288, Z.4ff.)

  • fehlendes Vertrauen in der Beziehung

  • er will die momentane Stimmung nicht verderben (S.28, Z.1ff.)

  • er schämt sich für seinen Vater

  • Martha ist die Ältere und ist für Hans ein Mutterersatz. Sie führt Hans in die Selbstständigkeit

  • Die Beziehung ist mit den gleichen Kommunikationsproblemen belastet die auch zwischen Hans und Arno existieren

Hans - Arno

  • kein gemeinsamer Erfahrungshorizont, Hans war nicht im KZ, deshalb scheitern oft die Gespräche

  • keine gegenseitige Anerkennung

  • Vater - Kind Verhältnis, keine Gleichberechtigung

  • das gesagte wird von der Vorweginterpretation überlagert

  • Hans hatte sehr lange ein falsches Bild von seinem Vater (S.28, Z.17ff.)

  • Streitgespräche: S.69-73, S.78-82, S.125, S.127-131, S.183-190, S.245

  • Rivalität zwischen Vater und Sohn um Elle (Eifersucht von Arno auf Hans, wegen Elles Briefe S.127, S.126, Z.13)

  • Schuldgefühl im nachhinein, sich nicht entschieden genug verhalten zu haben S.85

  • Distanz zum Vater

  • Hans denkt, sein Vater interessiert sich nicht für ihn (S.86, Z.3f.)

  • Arno sucht nicht die Nähe von Hans, außer er braucht etwas von ihm (S.126, Z.29ff.)

  • Ein Schrank versperrt die Verbindung zwischen dem Zimmer von Hans und Arno (S.218, Z.23ff.)

  • Bisher wurde nur über unverfängliches gesprochen, keine tiefe familiäre Beziehung, da nicht über Gefühle, Verletzungen und Enttäuschungen geredet wird (S.73, Z.31f.)

Hans - Elle

  • Mutterersatz (S.66)

  • Hans war zwölf, als er zum ersten mal etwas von seiner Schwester erfuhr (S.37)

  • gleiches Kommunikationsproblem wie zwischen Hans und Arno -> aneinander vorbeireden (S.237 - 239)

  • Konfrontation (S.235)

  • Hans erhofft sich von Elle den entscheidenden Rat zuhören (S.68)

  • Hans erzählt/vertraut Elle mehr als seiner Freundin Martha

  • Briefe (S.121-124, S.191-194, S.281-284)

  • Elle steht in bezug auf den Gefangenen auf Arnos Seite -> ihr Rat an Hans in einem ihrer Briefe den Vater nicht aufhalten, sich nicht einmischen. Elle und Arno verbindet das Leid, das sie durch das Naziregime erfahren haben.


 

Inhaltliche Besonderheiten

Erstellt von Markus Block

Darstellung des Judentums

  • ursprünglicher Titel des Buchs: "Wie ich ein Deutscher wurde": Der Titel zeigt die Veränderung von Hans in seinem Denken und Fühlen vom Juden zum Deutschen

  • keine Ausübung des jüdischen Glaubens, lediglich ein paar Traditionen sind bei ihm erhalten geblieben (Trauerjahr). Es wird nichts berichtet, dass eines der zahlreichen jüdischen Feste gefeiert wurde, oder dass Hans in die Synagoge geht.

  • (S.47 f.) Es gibt keine Juden als Rasse, sondern Staatsbürger, die jüdischen Glaubens sein können. Juden sind eine Erfindung, eine religiöse Minderheit, die zum Sündenbock gemacht werden aus Neid, Missgunst oder Aggressionstrieb -> Solidarisierung der Minderheit

  • (S.221) die drei sprechen jiddisch

  • Zeichen der Zusammengehörigkeit der Juden

  • Bewusste Ausgrenzung von Hans, d.h. der nächsten Generation, vom gemeinsamen jüdischen Schicksal

  • (S.189) Kwart spricht der nachfolgenden Generation die Fähigkeit ab, sich in die Gefühlslage der Elterngeneration hineinversetzen zu können.

  • Bewusste Abgrenzung von der Sprache der Peiniger (Deutsch)

Einleitung eines Aufsatzes

Der Roman "Bronsteins Kinder" des jüdischen Schriftstellers Jurek Becker erschien 1986 im Suhrkamp Verlag und zählt zu der Literatur der Gegenwart. Jurek Becker, der in der DDR lebte, befasst sich in diesem Roman, der autobiographische Elemente enthält, unter anderem mit...

  • ...einem Vater Sohn Konflikt, der sich besonders in der Unfähigkeit miteinander zu reden bemerkbar macht.

  • ...mit einem Vater Sohn Konflikt, der dadurch entstand, dass Hans, Arnos Sohn, entdeckt, wie sein Vater mit zwei anderen ehemaligen KZ-Häftlingen einen ehemaligen KZ Aufseher gefangen halten, um aus ihm ein Geständnis zu erpressen und Hans damit nicht einverstanden ist.

  • ...der Zugehörigkeit von Hans zum Judentum und den Folgen des Naziregimes für die Opfer und deren Angehörigen.

Sprachliche Mittel im Roman

  • innerer Monolog

  • Wiedergabe der Gedanken, Gefühle oder des Bewusstseinsstrom des Erzählers

  • 1.Person Singular Präsens

  • die Bewertung der Gedanken durch den Autor fehlt, dies wird dem Leser überlassen

  • wird nicht mit z.B. "ich überlegte..." eingeleitet

  • erlebte Rede

  • 1./3. Person Singular Präteritum

  • Wiedergabe der Gefühle etc.

  • eine Art Selbstgespräch

  • ohne Kennzeichnung durch entsprechende Satzzeichen

  • Ich-Erzählperspektive

  • Retrospektive (Rückschau)

  • Überlagerung der Zeitebenen (Im Film Technik der Rückblende)

  • alte, umgangsprachliche Redewendungen, Jugendjargon, Sarkasmus und Ironie -> Distanzierung vom grauenhaften Geschehen (emotionslose Sprache)

  • Aneinander Vorbeireden oder das Abbrechen der Gespräche ist ein Symbol für die Sprachlosigkeit

  • Metaphern

  • Waldhaus: Paradiesische Privatsphäre- Vertreibung durch die Gefangennahme Heppners, aus dem Paradies wird ein Gefängnis

  • Schlüssel: Lösung des Problems

  • Restaurant "Ganymed": Goethe-Gedicht, in dem ein "Allliebender Vater" angesprochen wird, ganz im Gegensatz zu Arno, der seinen Sohn als Feind bezeichnet (S.184, Z.7)

  • Schrank im Zimmer von Hans: Der versperrte Zugang zueinander, keine echte Kommunikation möglich

Sonstiges

  • Das Waldhaus war verschlossen, als Hans den Gefangenen entdeckt (S.19, Z.20f.) - Das Haus war nicht verschlossen (S.96, Z.13ff.). Vermutung: Durch das Lügen verdreht sich die Realität in Hans‘ Unterbewusstsein, so daß er selbst nicht mehr genau weiß, wie es wirklich gewesen war.

  • Arno will, dass Hans die Gefangennahme beendet (Auffassungssache)

  • Arno ist gegen eine Durchsuchung von Hans, er weiß, dass die Tür verschlossen war, also muß er annehmen, dass Hans einen Schlüssel hat, der wäre bei einer Durchsuchung dann gefunden worden (S.26, Z.14ff.)

  • Arno nimmt Hans das Sektglas aus der Hand, er will nicht, dass Hans sich betrinkt und geständig wird, oder sich von seinem Vorhaben abbringen lässt (S.183, Z.25ff.), auf der anderen Seite bietet er ihm Alkohol an (S.226, Z.28ff.)

  • Arno ist ein sehr gewissenhafter Mensch, wieso lässt er das Schloss an der Waldhaustür nicht auswechseln, wenn er schon vermutet, dass Hans einen Nachschlüssel hat???

  • Arno provoziert Hans, um ihn in seinem Standpunkt zu bestärken


 

Die Nebenpersonen des Romans

Referat von Heike Berger

Werner Klee (Halbfreund) S. 149 - 152/ S. 5

Werner Klee ist der Halbfreund von Hans. Als Hans einen anonymen Brief an seinen Vater und die beiden anderen Entführer schreiben will, sucht er Werner Zuhause auf. Er hat vor, Werners Schreibmaschine auszuleihen, damit der Vater nicht sofort merkt von wem dieser Brief stammt. Hans will mit Werner nicht über die Entführung sprechen. Diese Tatsache gibt Aufschluss darüber, dass Hans ihm nicht wie einem richtigen Freund vertraut, da er des öfteren in Erwägung zieht, vertraute Personen in die Sache einzuweihen.

Hans ist Werner seit einiger Zeit aus dem Weg gegangen (der Leser erfährt nicht wieso dies so gewesen ist).

Als Hans Werner besuchen kommt, öffnet dessen Mutter die Tür. Von der Mutter erfährt Hans, dass Werner noch im Bett liegt. Als Hans gehen will reißt sie die Tür zu Werners Zimmer auf, als hätte Hans ihr dazu einen Vorwand geliefert. Werner erhält, so lässt sich vermuten, kaum Besuch. Er zieht sich in seinem Zimmer zurück und geht womöglich so gut wie nie aus dem Haus. Werner ist, so scheint es, ein Einzelgänger wie Hans. Vielleicht kommt Hans deshalb mit Werner besser aus, als mit anderen Gleichaltrigen.

Als Hans in Werners Zimmer ist droht dieser wieder einzuschlafen. Hans öffnet deshalb das Fenster um frische Luft hinein zu lassen. Werner schottert sich so eventuell von der Außenwelt ab, wenn er sich in seinem Zimmer verbarrikadiert. Werner hat als Nachttisch nur einen Stuhl. Dies beweist entweder, dass es ihm egal ist, wie sein Zimmer aussieht. Vielleicht haben seine Eltern jedoch nur zu wenig Geld, um Werner einen Nachttisch zu kaufen.

Werner schaut auf Hans' Armbanduhr, bleibt dabei jedoch ausdruckslos. Ihn interessiert es womöglich nicht, dass es schon längst Zeit ist aufzustehen. Er fühlt sich von Hans gestört. Da dieser nicht geht, ahnt er, dass Hans ihm etwas wichtiges mitteilen möchte. Damit liegt Werner auch richtig, da Hans gekommen ist, um seine Schreibmaschine auszuleihen.

Hans behauptet von Werner, dass er immer Witze reißen müsse. Dies wäre wie eine Krankheit und wenn ihm keine Formulierungen einfielen, die witzig genug seien, sagt er lieber nichts. Folglich muss Werner auch ein sehr eigensinniger, in sich zurückgezogener Typ sein, der wenig spricht und deshalb auch wenig über seine Person preisgibt.

Werner geht aus seinem Zimmer um in der Küche nach Essen zu suchen. Er weist Hans darauf hin, dass er kein Geld habe nach dem dieser eventuell suchen könnte. Zum einen beweist dies, dass Werner Hans nicht traut wie man es einem Freund üblicherweise macht. Er untErstellt ihm, daran gedacht zu haben, ihn zu bestehlen. Zum anderen bestätigt diese Aussage, dass Werners Eltern womöglich nur über wenig Geld verfügen, was bereits schon der spärliche Nachttisch vermuten lässt. Werner lässt Hans an seinen Strümpfen riechen, um sich Gewissheit darüber zu verschaffen, ob er diese nochmals anziehen könne. Werner wechselt also nicht jeden Tag seine Socken. Wahrscheinlich wechselt er seine Unterwäsche auch nicht jeden Tag und andere Kleider nicht oft, sodass man darauf schließen kann, dass es Werner nahezu egal ist, wie er auf andere Menschen wirkt.

Als Werner in der Küche ist, dreht er das Radio auf volle Lautstärke. Er nimmt keine Rücksicht auf seine Eltern, Hans oder Nachbarn.

Die Schreibmaschine die Hans ausleihen will, gehört Werners Vater. Werner möchte sie Hans nicht ausleihen. Er behauptet, dass sein Vater es nicht gern habe, Eigentum aus dem Haus zu geben. Werner bietet unter diesem Vorwand Hans an, den Brief in seinem Zimmer zu schreiben. In Wirklichkeit interessiert er sich aber für den anonymen Brief, über den Hans nichts erzählt. Werner schlägt ihm deshalb auch vor bei den Formulierungen behilflich zu sein.

Hans geht auf Werners Vorschläge nicht ein, woraufhin dieser über sein Vorhaben Scherze macht. Dies beeinflusst Hans indirekt, den Brief nicht zu schreiben. Hans behauptet, dass Werner seine Witze immer totreiten müsse. Werner tut zwar so, als ob ihm diese Aussage nicht getroffen hätte, dennoch wirkt er daraufhin viel ernster. Hans spürt nun eine Spannung zwischen ihm und Werner, was darauf schließen lässt, dass dieser beleidigt ist. Er hält Hans dann auch nicht davon ab, als dieser gehen möchte.

Werner muss zum Armeedienst. Er möchte nicht darauf angesprochen werden, da er jeder Frage hierzu ausweicht und dann das Thema wechselt. Auf Seite 5 erfährt der Leser, dass Hans ihm später, als er beim Armeedienst ist, einen Brief schreibt. Er teilt ihm mit, dass er seinen Studienplatz wunschgemäß bekommen hat. Hans begründet diesen Brief damit, als er behauptet "er braucht gute Nachricht". Folglich gefällt es Werner, wie befürchtet, nicht bei der Armee.

Gitta Seidel S.153 - 155

Gitta wohnt in Hans' Nachbarschaft, ein Stück die Straße aufwärts. Hans gefällt Gitta, sie lächelt ihn immer in den großen Pausen auf dem Schulhof an. Sie ist der Schwarm aller Jungs. Hans wird von ihnen um Gittas Aufmerksamkeit beneidet. Hans hat dennoch nur seine Freundin Martha im Sinn und sucht deshalb zu Gitta keinen weiteren Kontakt.

Gittas Vater ist Anwalt. Als Hans einen Fachmann sucht, welchem er sein Geheimnis anvertrauen kann, erinnert er sich an Gittas Vater. Um sich günstig einen Anwalt zu verschaffen, möchte er sich mit Gitta anfreunden. Er glaubt als Freund der Tochter, Rat von ihm zu bekommen. Hans ruft bei Gitta an, um sie von einem Treffen zu überzeugen. Er deutet an, Hilfe von ihr zu suchen. Gitta fühlt sich deshalb geschmeichelt und stimmt zu.

Gitta erscheint pünktlich. Sie trägt ein Kleid, das Hans für diesen Anlass zu übertrieben findet. Dies zeigt, dass Gitta sich von dem Treffen mehr erhofft. Sie glaubt, nun endlich von Hans wahrgenommen worden zu sein. Hans behauptet von Gitta, dass diese immer wie eine Anziehpuppe durch die Gegend läuft. Sie ist also sehr eitel und achtet darauf, dass andere nichts schlechtes über sie denken.

Gitta hört Hans geduldig zu. Als sie jedoch den wirklichen Grund des Treffens erfährt, sie solle bei ihrem Vater nur einen Termin für Hans machen, ist sie empört. Kurz angebunden teilt sie ihm dann nur die Anschrift der Anwaltskanzlei mit. Sie gibt ihm lediglich noch den Hinweis, dass ein Schild mit den Öffnungszeiten an dem Gebäude befestigt ist.

Ron Wackernagel S.229

Ron Wackernagel ist ein Bekannter von Martha. Hans vermutet, er könne ihr Freund sein und kann ihn deshalb nicht ausstehen. Er ist eifersüchtig auf ihn. Als Martha mit ihm Tennis spielt, stürzt sie und verstaucht sich den Arm. Ron bringt sie in die Unfallklinik und kümmert sich umsichtig und freundlich um sie. Hans begegnet ihm auf der Treppe, als Ron, nachdem er Martha nach Hause gebracht hat, zur Apotheke will, um Tonerde gegen die Schwellung zu besorgen. Ron ist aus Hans' Sicht adrett gekleidet. Er trägt eine weiße Jacke.

Schwester Hermine S.232

Schwester Hermine hat neu in Elles Abteilung angefangen, als Hans 14 Jahre alt ist. Er hat sie nie gesehen.

Es ist zu Spannungen zwischen Elle und Schwester Hermine gekommen. Elle hat sich bemüht sie wieder los zu werden. Als ihre Bitten von Oberschwester und dem zu behandelnden Arzt abgeschlagen werden, behauptet sie, von Schwester Hermine drangsaliert zu werden, wenn keine Zeugen in der Nähe sind. Elles Klagen bleiben ohne Erfolg. Daraufhin behauptet Elle vor ihrem Vater, von ihr zusätzlich zu den üblichen Medikamenten Tabletten zu bekommen, welche sie schläfrig machen. Um die Wirksamkeit dieser Tabletten unter Beweis zu stellen, übergibt sie zwei davon ihrem Vater, damit dieser sie bei einem Labor untersuchen lassen kann. Das Ergebnis, mit dem der Vater selbst nichts anfangen kann, übergibt er der Heimleitung. Es stellt sich heraus, dass diese Tabletten ein starkes Beruhigungsmittel enthalten, welches "Gift" für Elle ist. Schwester Hermine wird zur Folge dessen entlassen.

Monate später findet Hans heraus, dass Elle die Geschichte mit den Tabletten nur inszeniert hat, um Schwester Hermine los zu werden.

Frau Halblang S. 86

Frau Halblang ist eine alte Frau. Sie wohnt im Nachbarhaus von Hans. Er erinnert sich später noch gut an sie. Sie hat nur noch ein Auge und keine Zähne mehr. Frau Halblang hat während der Vater unter anderem Elle im Heim besucht hat, auf Hans aufgepasst. Sie hat dafür aber nie Geld angenommen, Geschenken wie Kaffee oder Süßigkeiten ist sie nie abgeneigt gewesen.

Hans übernachtet ein paar Mal bei ihr. Er schläft auf einem abschüssigen Sofa vor dem zwei schwere Sessel geschoben werden, damit er nicht runterfällt. Frau Halblang stirbt 1969.

Wanda S. 132/171/263

Wanda ist die Lebensgefährtin von Gordon Kwart. Dennoch bleibt unklar, ob sie auch miteinander verheiratet sind, welches selbst Hans' Vater nicht weiß. Sie ist Musikerin - Harfistin - und lässt sich leicht von anderen kränken. Wanda ist mindestens 20 Jahre jünger als Gordon und hat eine sehr große Zahnlücke. Dies lässt darauf schließen, dass sie bestimmt keine Schönheit ist, denn Gordon ist kein besonders reicher oder gutaussehender Mann. Sie hat also keinen gewichtigen Grund, außer ihrer Liebe zu Gordon und der Zuneigung die er ihr schenkt, um gerade mit ihm zusammenzuleben. Gordon macht Hans den Eindruck, als fürchte er sich vor Wanda. Hans' Vater glaubt dies nicht.

Wanda ruft bei Bronsteins an, als sie Gordon sucht. Es eilt, da es um eine Orchestergeschichte geht (S. 263). Wahrscheinlich ist ein Geiger spontan ausgefallen und muss durch Gordon Kwart ersetzt werden. Hans gibt ihr den Tipp, bei Rotstein anzurufen, stellt jedoch nachdem er aufgelegt hat fest, dass dieser nicht im Telefonbuch steht. Wanda ruft jedoch nicht noch mal an.

Als Hans Gordon ein Jahr nach dem Tod des Vaters besuchen kommt, um ihn auf Grund seiner Wohnungssuche um Hilfe zu bitten, ist Wanda verreist (S. 171). Gordon Kwart glaubt, sie sei aufs Land zu ihrer Schwester. Er weiß es aber nicht mit Sicherheit, da er dieser Aussage den Ausspruch "so weit ich weiß" anfügt. Womöglich haben die beiden Streit. Gordon ist nach dem Tod von Hans' Vater vielleicht des öfteren gereizt, da er die Schuld für dessen Ableben an sich sucht. Eventuell ist er gegenüber Wanda nicht sehr liebevoll gewesen und sie hat sich dies, ihrer empfindlichen Art entsprechend, zu sehr zu Herzen genommen.


 

Literarischer Aufsatz 1

Textstelle: Seite 95, Zeile 3 - Zeile 31
 
 
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Unterwegs überlegte ich, auf wen der Gefangene wohl
seine Hoffnung setzte, sofern er sich nicht aufgegeben
hatte: auf mich wahrscheinlich, auf jeden unerwarteten Be-
sucher; auf die Polizei, der sein Verschwinden bestimmt
gemeldet worden war, von seiner Frau, von sonstwem, mit
dem er lebte; auf ein Einsehen der Entführer. Vielleicht
schrie er sich die Kehle wund, sobald sie ihn allein lie-
ßen.
Dann wurde mir klar, daß er allen Grund hatte, die Polizei
zu fürchten wie die Pest. Anderswo ging man mit ehemali-
gen Aufsehern wohl sachte um, hier aber galten sie als Un-
geheuer, hier konnte er nicht mit Nachsicht rechnen, hier
würden sie ihn zerstückeln. Er durfte nicht um Hilfe rufen,
ja, er durfte Vater, Kwart und Rotstein nicht einmal anzei-
gen, falls ihm die Flucht gelang. Er konnte nur beten, daß
nichts geschah, was die Polizei aufmerksam machte.
Aus der verzweifelten Lage des Aufsehers ergab sich, daß
die Gefahr, in der mein Vater schwebte, geringer war als an-
genommen. Wann hatte es das je gegeben, daß ein Entführ-
ter mehr Angst vor der Entdeckung haben mußte als seine
Entführer? Es erschreckte mich, wie fest er in ihrer Hand
war; er konnte nur auf ihre Gnade hoffen, also auf ein Wun-
der. Wenn ich in das Häuschen ging, dann war er auch in
meiner Hand.
Als ich in Erkner aus dem Zug stieg, stand der Gegenzug
schon da, wenige Schritte entfernt und verlockend. Ich
mußte mich zwingen, nicht zurückzufahren. Der Mann
war so oder so in meiner Hand, ob ich nun in das Haus
ging oder zurückfuhr.

Arbeitsanweisungen

  • Ordnen Sie die vorliegende Textstelle in den Zusammenhang ein und interpretieren Sie sie.
  • Legen Sie dar, durch welche Umstände sich die Situation für Arno Bronstein als Haupttäter bei dem illegalen Treiben der drei Entführer verschlechtert bis hin zu seinem Ende.

Lösungsvorschlag von Ingo FALK

1986 erschien im Suhrkamp-Verlag der Roman Bronsteins Kinder des jüdischen Autors Jurek Becker. Das Buch bildet nach Jakob der Lügner und Der Boxer den dritten und letzten Teil einer Trilogie, in der der 1977 aus der DDR in den Westen übergesiedelte Jurek Becker sich mit seiner Zugehörigkeit zum Judentum und der Einstellung zum Nachkriegsdeutschland beschäftigt.

Der vorliegende Roman hat einige Merkmale eines Entwicklungsromans, denn er erzählt die Geschichte des jungen Mannes Hans Bronstein, der, während er selbst seine Abiturprüfung ablegt, mit ansehen muss, wie sein Vater Arno Bronstein sich durch die Beteiligung an der Entführung eines ehemaligen KZ-Aufsehers immer tiefer in eine ausweglose Situation bringt. Der Vater, der wie die anderen beiden Entführer Jude ist und die Konzentrationslager der Nationalsozialisten überlebt hat, gerät durch sein eigenes Vorgehen in schwere Gewissenskonflikte, da er einerseits seine Verantwortung als alleinerziehender Vater vernachlässigt, andererseits von seinem Sohn die Umkehrung der Täter-Opfer-Rolle vorgehalten bekommt. Die Figurenkonstellation und die Tatsache, dass die Handlung Anfang der siebziger Jahre in der DDR spielt, lässt deutliche autobiografische Bezüge zum Autor erkennen, wobei die vorliegende Textstelle besonders gut in die Problematik einführen kann.

Die drei Entführer Arno Bronstein, Kwart und Rotstein halten ihr Opfer im Wochenendhaus der Bronsteins am Rande von Ost-Berlin gefangen. Sie haben weder eine persönliche Beziehung zum ehemaligen Aufseher Arnold Heppner, noch ist einer der drei im selben Konzentrationslager wie Heppner gewesen. Vielmehr hat dieser sich im Alkoholrausch in der Stammkneipe Gordon Kwarts selbst verraten, worauf er unter einem Vorwand in das Waldhaus gelockt wurde.

Für Hans ist das Waldhaus in erster Linie ein Liebesnest, denn er hat sich heimlich einen Nachschlüssel anfertigen lassen, um dort ungestört mit seiner Freundin Martha zu sein. Als er eines Tages das Haus aufsucht, um auf Martha zu warten, überrascht er die drei Entführer bei der Misshandlung des Gefangenen und zeigt wenig Verständnis für deren Selbstjustiz. Hans hätte somit gute Gründe, dem Treiben im Waldhaus ein Ende zu setzen und mit dem Schlüssel auch ein Mittel dazu. Obwohl er sich zur Befreiung des Gefangenen nicht entschließen kann, bricht er nach der letzten Prüfung zum Haus auf, da er weiß, dass sein Vater zu dieser Zeit nicht dort sein würde. Die Textstelle setzt ein, als Hans sich auf dem Weg zum Waldhaus befindet.

Der vorliegende Abschnitt auf Seite 95 gibt ausschließlich die Gedanken von Hans wieder, und zwar in der Ich-Erzählperspektive als Rückschau, denn der gesamte Roman ist in zwei sich überlagernde Zeitebenen gegliedert: August 1973 – der Zeitpunkt der Vorgänge im Waldhaus – und Mai 1974. Dabei ist die Darbietungsform so angelegt, dass alles im Jahr 1974 erzählt erscheint – diese Textstelle somit im Präteritum: "Unterwegs überlegte ich,..." (Zeile 3ff.). Damit soll zum Ausdruck kommen, wie Hans am Ende des Trauerjahres nach dem Tod seines Vaters aus der lähmenden Lethargie erwacht und sich aktiv daran macht, die Erlebnisse von damals zu verarbeiten.

Zunächst sinniert Hans über die Situation des Gefangenen und die Möglichkeiten aus dessen Sicht, freizukommen (Zeilen 3 -10). Er ahnt jedoch, dass außer ihm selbst kaum einer für die Befreiung Heppners in Frage kommt, auch wenn Hans sich das nur allzu gern wünschen würde. Seine Gedanken sind Ausdruck für innere Bestrebungen, die Verantwortung abzugeben und die Lösung des Problems anderen zu überlassen. Hier kommen deutliche Parallelen zur Situation der Mitwisser und Mitläufer im Dritten Reich zum Vorschein, welche spiegelbildlich durch die Umkehrung der Täter-Opfer-Beziehung abgebildet ist. Das Wegschauen und Nichtwissen-wollen soll angeprangert werden.

Die Lage des Gefangenen ist jedoch insofern prekär, als dass er eine Entdeckung durch die Polizei und damit seine sichere Enttarnung ebenso fürchten muss, wie die Misshandlungen durch die ehemaligen Opfer. Während Hans sich dieser Tatsache bewusst wird (Zeilen 11 - 18), fällt sein Augenmerk auf die DDR-Justiz. In dem er die Formulierung verwendet, Naziverbrecher gelten "als Ungeheuer" (Zeile 13f.), die man "zerstückeln" (Zeile 15) würde, kommt zum Ausdruck, dass die Justiz der DDR mehr an Racheakten als an Rechtsstaatlichkeit interessiert ist und somit deutliche Ähnlichkeiten zur Justiz der Nationalsozialisten aufweist.

"Aus der verzweifelten Lage des Aufsehers ergab sich, daß die Gefahr, in der mein Vater schwebte, geringer war als angenommen. Wann hatte es das je gegeben, daß ein Entführter mehr Angst vor der Entdeckung haben mußte als seine Entführer?" (Zeilen 19 - 23)

Hans geht also nun auf die Situation seines Vaters ein, dem von außen demnach keine große Gefahr drohe, eine um so größere jedoch möglicherweise von innen heraus, nämlich aus dem Gewissenskonflikt und dem damit verbundenen seelischen Ungleichgewicht. Auch ist die Konstellation mit Peinigern, die keine Angst vor Entdeckung zu haben brauchen in Deutschland nicht neu, denn gerade in der Nazizeit schien ja auch kaum jemand ein wirkliches Interesse daran zu haben, das Unrecht aufzudecken und zu benennen. Der Autor benutzt hier wieder die spiegelbildliche Darstellung zur Verdeutlichung.

"Es erschreckte mich, wie fest er in ihrer Hand war; er konnte nur auf ihre Gnade hoffen, also auf ein Wunder." (Zeilen 23 - 25)

Hier erkennt Hans, dass der Gefangene seinen Peinigern vollkommen ausgeliefert ist und gibt zu, dass er selbst sehr besorgt darüber ist, denn auf deren "Gnade hoffen" hieße "auf ein Wunder" (Zeile 24f.) hoffen. In der Dramaturgie der Gedanken von Hans kommt es dadurch am Ende dieses Absatzes zu einer Zuspitzung des inneren Konflikts. Der letzte Satz verdeutlicht seine eigene Rolle:

"Wenn ich in das Häuschen ging, dann war er auch in meiner Hand." (Zeilen 25 - 26)

Was nichts anderes bedeutet, als dass in das Waldhaus zu gehen, ohne Heppner zu befreien, hieße, sich mitschuldig zu machen. Dieser Zwiespalt in Hans stellt einen Grundkonflikt des Romans von Jurek Becker dar. Rechtzeitiges entschlossenes Handeln hätte das Unrecht beendet und Hans‘ Vater vor dem sicheren Untergang bewahrt, zu einer Zeit, in der Hans noch nicht allzu tief in die Angelegenheit verstrickt war und somit selbst wenig Schaden erlitten hätte. Auch hier wird an die Situation am Beginn der Nazidiktatur erinnert.

Im Folgenden wird Hans mit dem Bestreben konfrontiert, davonzulaufen, weil "der Gegenzug schon da" (Zeile 27f.) steht, der ihn zurück in die Stadt bringen würde. In der vorliegenden Textstelle bleibt offen, ob Hans diesem Bestreben nachgibt oder den Weg zum Haus wählt, denn sie endet mit der Metapher, dass der Gefangene "so oder so in meiner Hand" (Zeile 30) – der von Hans – sei. Damit wird die Aussage am Ende des vorangegangenen Absatzes noch einmal gesteigert: "so oder so" heißt, Hans ist durch seine Mitwisserschaft schon jetzt mitschuldig, und deshalb ist Eile geboten.

Hans entscheidet sich, zum Haus zu gehen, zu einer Befreiung Heppners kommt es jedoch (noch) nicht. Der junge Mann ist dieser Situation einfach nicht gewachsen und muss deshalb mit ansehen, wie sich sein Vater selbst zu Grunde richtet.

Jurek Becker will mit dem Tod Arno Bronsteins verdeutlichen, dass ein Unrecht auch um das Wohlergehen des Peinigers selbst willen so schnell wie möglich beendet werden muss. Wenn wir auch nicht genau erfahren, woran genau Arno Bronstein stirbt, so ist doch unstrittig, dass die Ursache im schweren Konflikt zwischen unterbewusstem Unrechtsbewusstsein und bewusstem, starrsinnigen Festhalten an einer haarsträubenden Rechtfertigungstheorie (Seite 80, Zeile 8ff.) zu suchen ist.

Die Kernpunkte dieses Konflikts kommen zum Ausdruck, als Arno Bronstein am Abend vor seinem Tod stark betrunken nach Hause kommt und in ungewöhnlicher Offenheit mit Hans spricht, es sind im Wesentlichen drei zu nennen:

Als Erstes die Erkenntnis, dass die weitgehende Verheimlichung von Hans, sich regelmäßig mit Martha im Waldhaus zu treffen, eine direkte Folge der Kommunikationsprobleme zwischen Vater und Sohn ist (Seite 268, Zeile 5ff.). Mit der Formulierung "Ich bin zwar dumm, aber nicht blind." (Seite 268, Zeile 12ff.) soll deutlich werden, dass ihm dies als alleinerziehendem Vater schwer zu schaffen macht.

Zweitens erkennt Arno Bronstein an der Reaktion des von ihm erzogenen Sohnes, dass sein Vorgehen im Waldhaus falsch ist und sieht vermutlich sogar eigene Zweifel bestätigt. Mit dem Hinweis auf das "Geständnis" (Seite 269, Zeile 4ff.) gibt er selbst zu, dass er krampfhaft auf der Suche nach Rechtfertigung des Unrechts ist und sogar wertlose Äußerungen Heppners hochstilisiert. In der Tat ist es Unsinn "zuerst zu sagen, Aufseher sei Aufseher, dann aber hinter Einzelheiten herzusein" (Seite 269, Zeile 15ff.), wie Hans sofort klar wird.

Schließlich kann auch Arno Bronstein kaum verborgen bleiben, dass sein eigener seelischer und körperlicher Gesundheitszustand sich analog zu dem des Gefangenen Arnold Heppners verschlechtert. Geschüttelt von Erinnerungen an seine eigenen Erlebnisse im Konzentrationslager bricht er in eine Mischung aus Lach- und Weinkrampf aus (Seite 270, Zeile 4ff.), nachdem er Hans von der Medikamentenabhängigkeit Heppners erzählt hat und die Möglichkeit dessen "Wegsterbens" (Seite 270, Zeile 1) offen ausspricht. Im letzten Kapitel erfahren wir jedoch, dass keinem der drei Entführer dieser mögliche Ausgang der Gefangennahme gleichgültig ist, denn auf einem Zettel schreibt Gordon Kwart: "Ich habe ihm heute die letzte Tablette gegeben. Jemand muß neue besorgen, oder auch nicht." (Seite 298, Zeile 28ff.). Arno Bronstein wird dennoch selbst Opfer seines seelischen Ruins.

 

 

Literarischer Aufsatz 2

Textstelle: Seite 166, Zeile 26 bis Seite 170, Zeile 6
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Als uns die Füße müde wurden, versuchten wir in einer
Eisdiele noch einmal unser Glück; wir stellten uns an und
warteten auf einen freien Tisch. Plötzlich, als ich Marthas
argloses Gesicht sah, fand ich es empörend, meine ein-
zige große Sorge vor ihr geheimzuhalten. Ich erzähle es
ihr, dachte ich, egal was kommt, ich fange an, sobald wir
sitzen.
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Aber als wir saßen, fiel mir der erste Satz nicht ein; ich
fürchtete mich vor jedem Wort, wie sollte ich da reden? Ich
kam erst zu mir, als Martha mich anstieß, weil eine Eispor-
tion vor meiner Nase zu schmelzen anfing.
»Bedrückt dich was?« fragte sie, das hatte wahrlich nichts
mit Hellseherei zu tun. »Du weißt genau, was mich bedrückt.«
»Etwas ist los mit dir«, sagte sie unbeirrt. »Du führst
Selbstgespräche.«
Es war die letzte Gelegenheit, sie ins Vertrauen zu ziehen,
ich ließ sie ungenutzt vorübergehen, als gäbe es Hunderte
davon. Stattdessen löffelte ich mein Eis und sagte: »Du
siehst Gespenster.«
Ein rothaariges Mädchen kam an unseren Tisch und sprach
Martha mit Namen an. Die Bekanntschaft muß flüchtig
gewesen sein, denn Martha hielt es nicht für nötig, mich
vorzustellen; sie redeten im Stehen miteinander, weil kein
dritter Stuhl da war. Die Rothaarige hatte ein Pflaster auf
der Stirn und sah ungesund aus. Ich hoffte, sie würde
lange genug bei Martha bleiben, um sie von ihrem Ver-
dacht abzulenken. Ich wollte schon meinen Stuhl anbie-
ten, da ging sie wieder, ohne mich auch nur bemerkt zu
haben.
Ich wußte, daß Martha dort fortfahren würde, wo wir ste-
hengeblieben waren, auch wenn ich fragte: »Wer war das
Mädchen?«
»Sie heißt Gertrud«, sagte Martha. »Aber lenk doch nicht
vom Thema ab.«
»Wir haben ein Thema!«
Sie nickte entschieden. Dann sagte sie, sie fühle sich in der
Lage, ein hübsches Kunststück vorzuführen: Meine Selt-
samkeit habe vor fünf Tagen angefangen, genau am letzten
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Sonntag, als wir im Häuschen verabredet gewesen seien.
Sie habe nicht übersehen, in welch verstörtem Zustand ich
gewesen sei. Sie habe mich absichtlich nichts gefragt, sie
habe geglaubt, ich werde schon selbst zu reden anfangen,
aber das glaube sie nun nicht mehr. Und da ich nicht nur
nichts erzählte, sondern geradezu verstockt schwiege,
müsse sie sich meine Geschichte eben selbst zusammenrei-
men.
In meinem Kopf schrillten Alarmglocken. Aber was will
sie schon wissen, dachte ich, eine solche Sache kann
man nicht erahnen; entweder man ist ihr Zeuge, oder man tappt
im dunkeln.
Ihre Vermutung, sagte Martha, sei die folgende: ich sei am
Sonntag mit meinem Nachschlüssel, nichts Böses ahnend,
in das Haus gegangen, und plötzlich habe Vater vor mir ge-
standen. Es müsse einen ziemlichen Krach gegeben haben,
vielleicht sei Vater sogar handgreiflich geworden, sie erin-
nere sich, sagte sie, daß ein Knopf an meinem Hemd ge-
fehlt habe. Doch ob handgreiflich oder nicht, der schöne
Schlüssel sei nun verraten gewesen. Dieser Treuebruch,
diese Schande, diese Peinlichkeit! An fünf Fingern könne
man sich abzählen, daß Vater mir den Schlüssel abgenom-
men hätte. Und genau das sei der Grund, warum ich seit
Sonntag unentwegt von Besuchern erzählte, die angeblich
unser Haus blockierten.
Ich sagte erleichtert: »Nehmen wir an, es hat sich alles so
zugetragen. Kannst du mir dann erklären, aus welchem
Grund ich ein Geheimnis daraus machen sollte?«
»Das verstehe ich auch nicht«, sagte Martha. »Genau das
ist der schwache Punkt.«
Ich mußte mir Mühe geben, nicht loszulächeln; mir war
zumute wie einem Schwerverbrecher, der nach seiner Ver-
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haftung erfährt, daß er wegen eines Taschendiebstahls fest-
genommen wurde, den er nicht einmal begangen hat.
Ich sagte: »Deine Geschichte hat noch einen zweiten
schwachen Punkt.«
»Und zwar?«
»Sie ist von vorn bis hinten lächerlich.«
»Das überzeugt mich«, sagte sie.
Ich holte den Schlüssel aus der Hosentasche und legte ihn
auf den Tisch. Martha nahm ihn, betrachtete ihn von allen
Seiten und sagte: »Ein Schlüssel.«
»Was heißt – ein Schlüssel? Es ist unser Schlüssel! Der
Schlüssel zum Haus im Wald.«
»Und was beweist das?«
Es hatte den Anschein, als wollte sie mich reizen. Ich sagte:
»Zuerst behauptest du, er hätte mir den Schlüssel abge-
nommen. Und wenn ich dir den Schlüssel zeige, sagst du:
Was beweist das schon.«
»Ich weiß selbst, was ich gesagt habe.«
Sie dachte nach, und ich steckte den Schlüssel in die Tasche
zurück. Anstatt das Geheimnis zu lüften und auf ewig mit
ihr verbunden zu sein, verstrickte ich mich immer tiefer in
mein Schweigen und brachte sie von der richtigen Spur ab.
Selbst wenn sie nie dahinterkam, so würde ich es doch im-
mer wissen, dachte ich.
Sie sagte: »Wo ein Nachschlüssel ist, da können auch zwei
sein.«
Ich hätte darauf nicht zu antworten brauchen, die Theorie
war so dürftig, daß Martha sie wenig später von selbst zu-
rückgenommen hätte. Doch ich hörte nur, wie störrisch sie
darauf bestand, daß ich ein Lügner war, und sagte: »Mach
nur so weiter.«
»Womit?«
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»Mit deinen jüdischen Spitzfindigkeiten.«
Ich wußte nicht mehr, was ich redete. Ich griff sofort nach
ihrer Hand, aber sie zog sie zurück. Sie murmelte ein paar
böse Worte, die ich lieber nicht verstand, dann ging sie da-
von. Im Fenster der Eisdiele sah ich sie vorüberschreiten
und dachte: Jetzt ist es passiert.

Arbeitsanweisungen

  • Ordnen Sie die Textstelle in den Gesamtzusammenhang des Romans ein.
  • Interpretieren Sie sie.
  • Legen Sie in diesem Zusammenhang die tieferen Ursachen für den Streit zwischen Martha und Hans dar und zeigen Sie die Folgen – auch unter Heranziehung weiterer Textstellen – auf.

Lösungsvorschlag von Ingo FALK

Jurek Becker, ein jüdischer Autor, der 1977 aus der DDR in den Westen übersiedelte, hat den Roman Bronsteins Kinder geschrieben. Das Buch, das 1986 im Suhrkamp-Verlag erschien, thematisiert das Verhältnis des Autors zum Judentum und zur deutschen Vergangenheit.

Der Roman erzählt die Geschichte des 18-jährigen Halbwaisen Hans Bronstein, der Sohn eines überlebenden Opfers der Konzentrationslager des Dritten Reiches ist. Der junge Mann wird Zeuge, als sein Vater, der Jude Arno Bronstein, gemeinsam mit zwei anderen jüdischen Überlebenden des Holocausts einen ehemaligen KZ-Aufseher im Wochenendhaus der Bronsteins am Rande Ost-Berlins gefangen halten und misshandeln. Da Hans Bronstein auf Grund seiner Erziehung die Selbstjustiz seines Vaters missbilligt, kommt es zum offenen Konflikt zwischen beiden. Gleichzeitig muss er mit ansehen, wie sich sein Vater durch die Beteiligung an der Entführung seelisch und gesundheitlich zu Grunde richtet bis hin zu seinem Tod.

Die Zweckentfremdung des Waldhauses hat für Hans jedoch auch noch eine weitere Bedeutung. Es ist das heimliche Liebesnest für ihn und seine Freundin Martha Lepschitz, denn er hat sich einen Nachschlüssel zum Haus anfertigen lassen, um dort mit Martha ungestört zu sein. Als Hans eines Tages das Waldhaus aufsucht, um auf Martha zu warten, überrascht er die drei Entführer bei ihrem illegalen Treiben. Aus Schamgefühl über seinen Vater verschweigt er seiner Freundin jedoch die Vorgänge um die Gefangennahme und ist dadurch einerseits in Erklärungsnot bezüglich des Häuschens, hat andererseits deshalb aber niemanden, mit dem er sich über den Fall beraten könnte.

Die vorliegende Textstelle verdeutlicht den inneren Konflikt von Hans in Bezug auf seine Beziehung zu Martha. Sie setzt ein, als die beiden auf dem Weg durch die Stadt sind in Ermangelung eines Platzes für ihre Zweisamkeit, denn bei Marthas Eltern stehen sie unter ständiger Beobachtung (Seite 246ff.) und zu Hans wollen sie auch nicht gehen, da Hans' Vater Martha nicht sonderlich leiden kann (Seite 16, Zeile 6).

Der gesamte Roman ist in zwei sich überlagernden Zeitebenen aufgebaut: August 1973 und Mai 1974, wobei die Vorgänge im Waldhaus 1973 stattfinden, die Geschichte jedoch 1974 in der Ich-Perspektive - der von Hans - erzählt wird. Es soll damit deutlich werden, dass Hans erst am Ende des Trauerjahres nach dem Tod seines Vaters die Geschehnisse von damals verarbeitet und aus seinem traumatischen Zustand erwacht. Da die vorliegende Textstelle 1973 spielt, ist sie folglich im Präteritum verfasst: "Als uns die Füße müde wurden..." (Seite 166, Zeile 26).

Martha und Hans stehen am Eingang einer Eisdiele und warten auf einen freien Tisch - ein typisches Bild von Jugendlichen in der DDR, welches uns der Autor hier näher bringt (Seite 166, Zeile 26ff.). Abseits der staatlich organisierten Freizeitgestaltung bleibt kaum Raum zur individuellen Entfaltung. Während die beiden endlich einen freien Platz bekommen, wird Hans vom Schamgefühl übermannt (Seite 166, Zeile 28ff.), seine Freundin immer noch nicht über die wahren Vorgänge im Waldhaus aufgeklärt zu haben. Stattdessen hat er ihr die Geschichte von einem Bekannten seines Vaters erzählt, der zu Besuch sei und sich im Haus einquartiert habe. Doch Martha erkennt, dass etwas mit ihm nicht stimmt und stellt ihn zur Rede (Seite 167, Zeile 5f.). Jetzt wäre für Hans eine gute Gelegenheit, Martha endlich einzuweihen, Hans bezeichnet sie in seinen Gedanken sogar als "die letzte Gelegenheit" (Seite 167, Zeile 10) und deutet damit an, welche Folgen ein Schweigen für ihre Beziehung haben wird - es wird sie früher oder später zerstören.

Als ein fremdes Mädchen an ihren Tisch kommt und sich mit Martha unterhält, versinkt Hans wieder in Gedanken. Dabei assoziiert er das Aussehen des Mädchens ("die Rothaarige hatte ein Pflaster auf der Stirn und sah ungesund aus"; Seite 167, Zeile 18) mit gängigen Klischees über das Aussehen von Juden. Der innere Konflikt in Hans lässt ihn an gar nichts anderes mehr denken. Doch so aufgewühlt er innen ist, so verschlossen bleibt er nach außen, denn Martha versucht, ihm auf dem Weg zur Wahrheit entgegenzukommen und ersinnt eine Geschichte, die sein Verhalten erklären könnte (Seite 167, Zeile 30 bis Seite 168, Zeile 25), jedoch nur wenig mit der Wahrheit zu tun hat. Deshalb erkennt sie folgerichtig, dass der "schwache Punkt" (Seite 168, Zeile 30) an der Geschichte der fehlende Grund zur Verheimlichung ist. Doch statt enttäuscht zu sein, ist Hans erleichtert (Seite 168, Zeile 31ff.) und bezeichnet den Erklärungsversuch von Martha als "von vorn bis hinten lächerlich" (Seite 169, Zeile 6). Martha entgegnet zwar: "Das überzeugt mich" (Seite 169, Zeile 7), meint aber das Gegenteil.

Martha wird uns hier beschrieben als aufmerksam, scharfsinnig und mit Sinn für das Praktische. Damit wäre sie für Hans die ideale Partnerin zur Lösung seines Konflikts. Es soll uns gezeigt werden, dass es deshalb so fatal für Hans ist, sie nicht ins Vertrauen zu ziehen. Da Marthas Erklärungsversuch auf den Verlust des Nachschlüssels hinausläuft, zeigt er ihr den Schlüssel als Gegenbeweis (Seite 169, Zeile 8). Der Schlüssel hat große symbolische Bedeutung im Roman von Jurek Becker, denn er hätte Hans von Anfang an die Möglichkeit gegeben, dem Treiben im Waldhaus ein Ende zu setzen - vor allem mit Marthas Hilfe. Deshalb sagt er laut zu ihr: "Es ist unser Schlüssel!" (Seite 169, Zeile 11), wobei "unser" kursiv gedruckt ist. Dies soll darauf hinweisen, dass in der Einweihung Marthas in die Vorgänge der "Schlüssel" für eine gemeinsame Zukunft gelegen hätte.

In der Folge geraten beide in einen Streit, bei dem Hans seinen Ärger über die vertrackte Situation an der unschuldigen Martha auslässt (Seite 169, Zeile 14), so wie sein Vater es oft bei ihm tut (z.B. Seite 78ff., Seite 127ff.). Diese Streitsucht ist Ausdruck des inneren Konflikts und seelischen Ungleichgewichts, welche durch Verheimlichen und Lügen entstehen.

Am Ende der vorliegenden Textstelle trennen sich Hans und Martha (Seite 170, Zeile 4ff.), es kommt jedoch schon bald wieder zur Versöhnung (Seite 170, Zeile 16ff.). Daran ist allerdings erkennbar, dass das Verhältnis zwischen beiden Grenzen der Belastbarkeit kennt. Wenn einer der beiden Partner nicht offen zum anderen ist, so wird die Vertrauensbasis unterhöhlt. Dabei gibt es in jedem Stadium der Beziehung zwischen Hans und Martha Gelegenheiten zur ehrlichen, aufrichtigen Aussprache, so auch als beide in Marthas Zimmer bei den Lepschitz' sind (Seite 251, Zeile 12ff.). Martha fordert ihn immer wieder heraus: "wir können uns herzlich gern streiten" (Seite 252, Zeile 12) oder "Los, rechtfertige dich!" (Seite 252, Zeile 35). Doch Hans schweigt. Dieser Umstand ist auch ein Hauptgrund, warum Hans seinen Vater nicht retten kann. Er ist allein der Aufgabe nicht gewachsen, zieht jedoch seine einzig mögliche Helferin nicht ins Vertrauen. So zerstört er ihre Beziehung und kann nur fassungslos mit ansehen, wie sein Vater zu Grunde geht.

 

Literarischer Aufsatz 3

Textstelle: Seite 129, Zeile 18 bis Seite 131, Zeile 5
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Als er fertig war, fragte ich, ob inzwischen eine Entschei-
dung gefallen sei, was weiter mit dem Gefangenen gesche-
hen solle. Vater starrte mich an, als wäre meine Frage an
den Haaren herbeigezogen.
Ich sagte: »Ihr habt euch mit diesem Mann eine Last aufge-
laden, die ihr nicht tragen könnt. Ihr erledigt euch selbst
und merkt es nicht einmal.«
»Man trifft selten jemanden, der achtzehn ist und schon so
lebenserfahren wie du«, sagte Vater.
»Du hast behauptet, daß den Gerichten ein solcher Fall
nicht zusteht«, sagte ich: »daß sie den Mann nur deshalb
verurteilen würden, weil ihnen nichts anderes übrigbliebe.
Und das ist einfach falsch.«
»Dann laß es falsch sein.«
»Du kannst nicht im Ernst behaupten, sie hätten eine

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heimliche Sympathie für Aufseher. Sie würden den Mann
verurteilen, und zwar nur wegen ihrer Überzeugung, daß
so einer verurteilt werden muß.«
Vater sah mich höhnisch an und nickte, wie um mich aufzu-
muntern, noch mehr solchen Unsinn daherzureden. Dann
sagte er: »Ich will es dir noch einmal erklären: Sie können
ihn deshalb nicht aus Überzeugung verurteilen, weil sie
keine haben. Sie kennen nur Befehle. Viele bilden sich ein,
daß die Befehle, die man ihnen gibt, ihrer eigenen Meinung
entsprechen. Aber wer kann sich darauf verlassen? Befiehl
ihnen, Hundedreck zu essen, und wenn du stark genug
bist, werden sie Hundedreck bald für eine Delikatesse hal-
ten.«
»Das sind nur Sprüche.«
»Sieh dich um«, sagte Vater und zeigte zum Fenster. »Wo
gibt es in diesem Land etwas Eigenes? Zeig mir irgendet-
was, was sie allein deshalb gemacht hätten, weil es ihnen
selbst eingefallen wäre.«
»Sie können sich verhalten, wie sie wollen: du kannst
Deutsche nicht leiden.«
»Kunststück«, sagte er.
Es stand ihm im Gesicht, daß er die Unterhaltung für been-
det hielt, ich war ihm lästig. Ich fühlte mich müde und
machtlos, ich konnte ihn nicht aufhalten. Ich erkundigte
mich, was die Verhöre ergeben hätten. Ich hörte, wie
gleichgültig meine Frage klang: wie der Versuch, ein müdes
Gespräch in Schwung zu halten. Er antwortete, es komme
enttäuschend wenig heraus, das müsse er zugeben. Darauf
sagte ich, der Gefangene sage ohnehin nur das, was sie von
ihm hören wollten.
Er lächelte und sagte: »Schade, daß wir dich nicht dabeiha-
ben, mit deinem Sachverstand.«

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»Und was geschieht, wenn ihr mit den Verhören fertig
seid?«
Er sah auf seine Uhr, stand auf und wunderte sich, wie
spät es geworden war. »Ein andermal, mein Freund, ein ander-
mal.«
Im Vorbeigehen tätschelte er mir die Schulter. In der Tür
drehte er sich noch einmal um und sagte: »Und gib mir
doch in Zukunft die Briefe gleich zu lesen.«

Arbeitsanweisungen

  • Ordnen Sie die Textstelle in den Gesamtzusammenhang des Romans ein.
  • Interpretieren Sie sie.
  • Gehen Sie in diesem Zusammenhang auf die Ursache für die gegensätzlichen Ansichten von Arno Bronstein und seinem Sohn Hans ein.
  • Zeigen Sie die Konsequenzen auf, die sich daraus ergeben, dass keiner den anderen von seiner Meinung überzeugen kann.

Lösungsvorschlag von Ingo FALK

1986 erschien im Suhrkamp Verlag der Roman „Bronsteins Kinder“ des jüdischen Autors Jurek Becker. Das Buch bildet nach „Jakob der Lügner“ und „Der Boxer“ den letzten Teil einer Reihe, in der sich der 1977 aus der DDR in den Westen übergesiedelte Autor mit dem Judentum und seiner Einstellung zum Nachkriegsdeutschland beschäftigt.

Das Werk hat einige Merkmale eines Entwicklungsromans, denn es erzählt die Geschichte des Halbwaisen Hans Bronstein, der, während er selbst die Hochschulreifeprüfung ablegt, miterleben muss, dass sein Vater, der Jude Arno Bronstein, an der Entführung eines ehemaligen KZ-Aufsehers beteiligt ist. Obwohl Arno Bronstein ebenso wie die beiden anderen ebenfalls jüdischen Entführer Kwart und Rotstein weder eine persönliche Beziehung zum Aufseher Arnold Heppner hat noch im selben Konzentrationslager wie Heppner war (Seite 103ff.), wird dieser von den Dreien im Wochenendhaus der Bronsteins gefangen gehalten und misshandelt.

Der Vater von Hans, der sonst als besonnener Mensch gilt (Seite 20, Zeile 33ff.), gerät durch sein Vorgehen im Waldhaus in schwere Gewissenskonflikte, vor allem auch, weil der von ihm erzogene Sohn das illegale Treiben der Entführer missbilligt, nachdem er zufällig Zeuge der Misshandlungen geworden ist.

Die Figurenkonstellation: alleinerziehender, jüdischer Vater und einziger Sohn, der lediglich eine Schwester in einer psychiatrischen Anstalt hat, und die Tatsache, dass die Handlung im Ost-Berlin der 70er Jahre spielt, lässt autobiografische Bezüge zum Autor Jurek Becker erkennen, wobei die vorliegende Textstelle sehr gut in die Problematik des Vater-Sohn-Konflikts einführen kann.

Der gesamte Roman ist in zwei sich überlagernde Zeitebenen gegliedert: der Zeitraum der Vorgänge im Waldhaus im Sommer 1973 und – fast ein Jahr nach dem Tod Arno Bronsteins – Mai 1974. Mit der Darstellung des Jahres 1973 als Rückblende, die 1974 wiedergegeben wird, macht der Autor deutlich, dass Hans lange Zeit braucht, um den Schock zu verarbeiten, und sich danach sogleich daran macht, ein neues Leben zu beginnen.

Da die vorliegende Textstelle im August 1973 spielt, ist sie im Präteritum verfasst: „Als er fertig war,...“ (Seite 129, Zeile 18). Sie beschreibt die verbale Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn bezüglich der Gefangennahme, die im Zimmer Arno Bronsteins abläuft. Er hat Hans gerade zum wiederholten Male die Ursache für das psychische Leiden von dessen älterer Schwester Elle dargelegt, welche er in den Misshandlungen sieht, die Elle im Versteck bei einer Bauersfamilie während des Krieges erfahren habe.

Schon eingangs der Textstelle wird der Bruch zwischen Vater und Sohn deutlich: Nachdem Arno mit seinen Ausführungen „fertig“ ist (Seite 129, Zeile 18), fragt Hans ihn, „was weiter mit dem Gefangenen geschehen solle“ (Seite 129, Zeile 19f.). Beide reden aneinander vorbei, d.h. eine echte Diskussion mit dem Austausch von Argumenten findet nicht statt. Es ist zu untersuchen, wo die Ursache für dieses Kommunikationsproblem liegt.

Immer wenn Hans argumentativ an die Vernunft seines Vaters appelliert, versucht dieser, ihm mit zynischen Bemerkungen die Urteilsfähigkeit abzusprechen:

„Man trifft selten jemanden, der achtzehn ist und schon so lebenserfahren wie du“ (Seite 129, Zeile 25f.),

oder blockt mit leeren Phrasen ab:

„Dann laß es falsch sein.“ (Seite 129, Zeile 31).

Einerseits zeigen sich hierin die Erziehungsdefizite des alleinerziehenden Vaters, der seine von den Erlebnissen des Holocausts herrührenden Kommunikationsprobleme (z.B. Seite 35, Zeile 6ff.) auf den Sohn überträgt. Das bedeutet, dass nicht nur der Wille Arno Bronsteins zur offenen Auseinandersetzung fehlt, sondern auch die Fähigkeit des ehemaligen KZ-Opfers. Weiterhin zeigt sich dies in seiner Rechtfertigungstheorie (Seite 130, Zeile 6ff.), die Hans folgerichtig als „nur Sprüche“ (Seite 130, Zeile 14) brandmarkt. Schließlich gebe es in jedem Volk Menschen, die „Befehle“ anstelle ihrer „Überzeugung“ (Seite 130, Zeile 7ff.) setzen und in keinem Land würden die Menschen etwas nur tun, „weil es ihnen selbst eingefallen wäre“ (Seite 130, Zeile 17ff.), sondern alles ist für Hans durch äußere Einflüsse und Entwicklungen bedingt. Nicht einmal die DDR könne hier als Beispiel überzeugen.

Eine andere mögliche Ursache für das Abblocken des Vaters gegenüber dem Sohn ist die Provokation: Arno Bronstein hat selbst große innere, z.T. im Unterbewusstsein liegende Zweifel an der Legitimation zur Selbstjustiz. Da er aber offensichtlich deren Initiator und Hauptakteur ist (Seite 101, Zeile 28f.) und außerdem die bekannte Gruppendynamik wirkt, erscheint es ihm unmöglich, die Entführung selbst zu beenden. Deshalb versucht er den Sohn zur Befreiung Heppners zu drängen. Hinweise darauf gibt es mehrere: Obwohl Arno weiß, dass Hans einen Nachschlüssel zum Haus hat, verlangt er nicht dessen Herausgabe und schützt ihn sogar vor der Entdeckung (Seite 26). Am letzten Prüfungstag von Hans ist Arno morgens bester Laune (Seite 99ff.) und gibt ihm zu verstehen, dass er bis nachmittags nicht im Waldhaus sein werde – es soll für Hans auch eine Reifeprüfung in anderer Hinsicht sein, denn der Vater ahnt, dass Hans das Haus aufsuchen werde. Tagsdarauf findet vorliegendes Gespräch statt, an dessen Anfang Arno seinen Sohn verärgert und enttäuscht fragt, „was aus dem Abitur geworden ist“ (Seite 125, Zeile 27f.), nachdem er ihm abgeraten hat, seine „Nase in die Angelegenheiten fremder Leute zu stecken“ (Seite 125, Zeile 9f.). Er will Hans provozieren, ihn zur Befreiung Heppners drängen. Dies erklärt auch, warum Arno jede Diskussion zurückweist. Jurek Becker macht diesen Zusammenhang weiterhin in ironischen und zugleich doppeldeutigen Aussagen des Vaters in der vorliegenden Textstelle deutlich:

„Schade, daß wir dich nicht dabeihaben, mit deinem Sachverstand.“ (Seite 130, Zeile 31f.)

Am Ende der Textstelle wird Hans sogar zweideutig als „Freund“ (Seite 131, Zeile 4) im Gegensatz zum „Fremden“ am Anfang bezeichnet und bekommt aufmunternd die Schulter getätschelt (Seite 131, Zeile 6), obwohl sich in den gegensätzlichen Ansichten nichts geändert hat. Arno hofft insgeheim, dass Hans von dem Gedanken abrückt, ihn oder die beiden anderen zu überzeugen Heppner laufen zu lassen, sondern selbst zur Tat schreitet und dem Treiben ein Ende setzt.

Hier jedoch versagt Hans. Obwohl er in seiner Freundin Martha sicher eine Komplizin hätte, die ihm mit ihrem Organisationstalent bei der Befreiung Heppners äußerst hilfreich wäre, weiht er sie nicht in den Fall ein. Stattdessen offenbart er sich seiner Schwester Elle, die ihm weder praktisch noch psychologisch eine Hilfe sein kann. Im Gegenteil vergrößert ihre Reaktion, z.B. in einem Brief (Seite 191ff.), seine Isolation noch weiter.

Jurek Becker erinnert mit seinem Roman durch die Umkehrung der Täter-Opfer-Beziehung an die Situation im Dritten Reich. Er zeigt auf, dass nach Ausbruch der Diktatur Überzeugungsarbeit fehl am Platz und stattdessen entschlossenes Handeln erforderlich ist, und zwar auch um das Wohlergehen der Peiniger selbst willen. Denn ebenso wie hier Arno Bronstein zu Grunde geht, endete auch die Nazidiktatur in der Katastrophe, wobei es an Skeptikern und Gegnern auch da nicht fehlte, sondern an Entschlossenheit.


 

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